Ein Blick auf das
Autismus-Spektrum
Eine allgemeine Begriffserläuterung
Historisch existiert der Begriff Autismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Bezeichnung wurde von dem in der Schweiz tätigen Psychiater Eugen Bleuler 1911 verwendet, um an Schizophrenie Erkrankte zu beschreiben, welche befremdende Begleiterscheinungen aufwiesen. Er stellte diese Besonderheiten als eine Abwehr von Kontakten mit Mitmenschen und als einen Rückzug „…in eine gedankliche Binnenwelt…“ dar.
Die Zusammensetzung des griechischen Wortes „autos“ (bedeutet selbst) und der lateinischen Endung „ismus“ (vergleichbar mit der Möglichkeit im deutschen durch die Wortendung -heit Nomen zu bilden) impliziert eine Erkrankung, in der Betroffene introvertiert erscheinen, so als hätten sie einen „Schutzwall“ um sich selbst errichtet, mit welchem sie die Außenwelt ausschließen wollen.
Einige Jahre später beschäftige sich ein amerikanischer Kinderpsychiater in seiner klinischen Praxis mit Kindern, welche ihm auffällig erschienen. In seinem Werk „Autistische Störungen des affektiven Kontakts“, welches 1943 erschien, beschrieb Leo Kanner seine Beobachtungen über insgesamt elf Kinder und verwendete dabei den von Bleuler geprägten Begriff.
Ausgehend von seinen Untersuchungen skizzierte er ein Bild von Kindern, welche von Geburt an unfähig waren, eine normale soziale Beziehung zu den eigenen Eltern oder anderen Bezugspersonen aufzubauen. Vielmehr waren sie sich selbst genug und daran interessiert, dass ihre unmittelbare Umgebung sich so wenig wie möglich verändert. Hinzu kam ein außergewöhnlicher Umgang mit der Sprache und Schwierigkeiten in der Kommunikation mit anderen.
Kanner fasste schon in dem Titel seines Werkes seine Schlussfolgerung zusammen. Demnach sah er im Autismus eine biologische Störung affektiver Funktionen, welche sich bereits in den ersten zwei bis drei Lebensjahren manifestieren. Basierend auf Kanners Arbeiten etablierte sich der Begriff „Kanner-Syndrom“ als Synonym für frühkindlichen Autismus.
In den folgenden Jahrzehnten beschäftigte sich eine Vielzahl an Forschern mit der Ursachenforschung zu diesem Störungsbild. Formal muss hier erwähnt werden, dass sich die „Kühlschrank-Eltern-Theorie“, welche ihren Ursprung in den 50iger und 60iger Jahren hatte, lange gehalten hat. Zurückzuführen ist sie auf den amerikanischen Psychoanalytiker und Kinderpsychologen Bruno Bettelheim (1909-1990), der den Ursprung der autistischen Störungen im emotionalen Bereich sah. Mit seiner Theorie der „Kühlschrank-Mutter“ prägte er die Sichtweise seiner Generation in Bezug auf Autismus. Es entstand ein Bild der Erkrankung, in dem gerade die Mütter zu wenig Zuwendung und Liebe für ihre Neugeborenen aufbrachten und dies zum autistischen Kind führen würde.
In den 70er Jahren wandten sich die Forscher neuen Aspekten der Ursachen für Autismus zu. Nun wurde die Ansicht vertreten, dass es sich bei Autismus um eine Beeinträchtigung im kognitiven und sprachlichen Bereich handeln würde. Darauf folgten Theorien, die dem strukturierten Unterricht eine große Bedeutung beimaßen.
Erstmals Wing und Gould fanden in ihrer Arbeit heraus, dass den gesellschaftlichen Aspekten mehr Aufmerksamkeit eingeräumt werden müssten, welche im Vorfeld nur wenig beachtet wurden. Aus dieser Einsicht heraus prägten sie den Begriff der „Triade von Beeinträchtigungen“. Nun war es möglich, den Defiziten der betreffenden Personen in den Bereichen der Interaktion, Kommunikation und der Phantasie gerecht zu werden.
Im weiteren Vorgehen ihrer Arbeit, war es Lorna Wing, welche 1988 dazu überging, den Begriff Autismus auf autistisches Kontinuum zu erweitern. Damit hatte sie die Möglichkeit geschaffen, Kinder zu beschreiben, welche Kanners ursprüngliche Kriterien nicht ganz erfüll-ten, aber dennoch annähernde Reaktionen aufwiesen. In den folgenden Jahren wurde die Triade der Beeinträchtigung als Basis genutzt, um Kinder mit Auffälligkeiten zu beschreiben. Gerade im Bereich des Autismus herrscht ein weites Feld der Möglichkeiten an Symptomen und der Ausgeprägtheit der Schweregrade, an denen Kinder leiden.
Daraus ergibt sich ein breites Spektrum an Kombinationen, die auftreten können. Um dem gerecht zu werden, verwendete Ling ab 1996 den Begriff des Autismus-Spektrums. Dieser Begriff hat sich in so weit etabliert, das heute in Fachkreisen von den Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen wird.
Die zentralen Besonderheiten, die erkennbar werden, treten jeweils in unterschiedlicher Ausprägung auf. Keine Person wird in seiner Diagnose einer anderen gleichen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch Autismus die Fähigkeit einer Person, sozial mit anderen zu interagieren, effektiv zu kommunizieren und wie andere Menschen zu lernen und zu denken einschränkt ist.
Woher kommt Autismus?
Auf die Frage nach dem Woher existieren zahlreiche Hypothesen. Diese haben sich im Wandel der Zeit, durch immer bessere Forschungsmöglichen, dem aktuellen Wissenstand angepasst.
Eine der vorherrschenden Theorien nach Bruno Bettelheim in den 70er Jahren, die These der Psychogenese, kann nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht mehr bestehen. Es sprechen einige Aspekte dagegen, dass die Ursache für Autismus in den Erziehungsfehlern der Eltern, insbesondere der Mutter, liegen würde. So sind autistische Kinder schon in den ersten Lebenswochen auffallend und weisen neurobiologische Eigenheiten auf, die bei normal entwickelten Säuglingen nicht auftreten. Dazu gehören unter anderem die Übererregbarkeit, das abnormale Schreien, Störungen des Essverhaltens und der Ausscheidungsfunktion, sowie das sich nicht Einstellen eines stabilen Wach-Schlaf-Rhythmus. Des Weiteren konnte die Behauptung, Eltern autistischer Kinder wären extrem auffällige Persönlichkeiten, wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden.
In der Fachliteratur werden viele ursächliche Faktoren für die Entwicklung des frühkindlichen Autismus aufgeführt und diskutiert. Einige davon sind die Thesen über die genetischen Einflüsse, die Hirnfunktionsstörungen und die biochemischen Komponenten, auf die kurz eingegangen werden soll.
Anhand von zahlreichen Zwillingsstudien liegt die Vermutung nahe, dass genetische Faktoren eine Rolle in der Entstehung von AS (Asperger-Syndrom) spielen. So ergaben Studien in Europa und den USA, das die Wahrscheinlichkeit von eineiigen Zwillingen ein autistisches Geschwister zu haben, größer ist als bei zweieiigen Zwillingen. Dadurch wird die Annahme gestützt, dass die Ursache autistischer Störungen in Enzymdefekten liegen könnte, welche weitervererbt würden. Da aber nicht alle autistischen Zwillinge ein Geschwister aufweisen, welches ebenfalls an AS leidet, kann dies nicht die alleinige Erklärung für die Entstehung darstellen.
Ein weiteres Indiz für eine genbedingte Ursache lieferten Familienstudien, die belegen, dass ein höheres Erkrankungsrisiko in Familien besteht, wenn es bereits eine auffällige Person gibt. Eine bestehende Hypothese besagt, dass die Beeinträchtigung von dem Vater auf männliche Nachkommen vererbt würde. Zudem finden sich gerade in diesen Familien vermehrt viele Familienmitglieder, die unter kognitiven Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten und Sprachstörungen leiden.
Biochemische Komponenten
Biochemische Vorgänge als mögliche Auslöser für Autismus sind ein schwieriger Bereich, der nötiges Fachwissen auf diesem Gebiet voraussetzt. Darum kann hier nur ein allgemeiner Einblick wiedergegeben werden.
In verschiedenen Untersuchungen an Menschen im AS konnten quantitative Abweichungen der körpereigenen Stoffe im Vergleich zu gesunden Menschen nachgewiesen werden.
Das Serotonin, welches im Körper dazu genutzt wird, um zwischen den Nervenzellen Erregungen weiterzuleiten, war bei einem Drittel der Betroffenen erhöht.
Ähnliche Ergebnisse erzielten Untersuchungen bestimmter körpereigener opiatartiger Stoffe. Der Spiegel von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin wies ebenso signifikante Abweichungen auf, wie das Serotonin.
Hirnfunktionsstörungen
Die bisher erwähnten Theorien haben alle eine Gemeinsamkeit. Aus verschiedensten Gründen kommt es zu Veränderungen im Gehirn. Autismus gilt heute als biologisch-neurologische Störung, die bestimmte Teile des Hirns in Mitleidenschaft zieht. In den verschiedensten Gehirnregionen konnten Wissenschaftler Anomalien bei Menschen im Spektrum im Vergleich zu gesunden Menschen nachweisen. Zu den betroffenen Regionen, in denen Veränderungen nachgewiesen wurden, gehören das Kleinhirn, das Stammhirn, der Frontallappen und der Hippocampus. Somit stellt sich viel eher die Frage, was hat zu welchem Zeitpunkt das Gehirn geschädigt? An diesem Punkt muss den Umwelteinflüssen wie dem Gesundheitszustand der schwangeren Frau und den Umständen vor und während der Entbindung Beachtung geschenkt werden. Denn mit Sicherheit kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass zu diesem Zeitpunkt, die Veränderung des Gehirns stattgefunden hat. Des Weiteren ist nicht geklärt, ob Komplikationen oder Medikamente in der Schwangerschaft als Auslöser gelten können.
Autismus – FAIRstehen
In Anlehnung an das positive Menschenbild, welches die Grundlage der Arbeit von PIA bildet, verwenden wir in unserer Arbeit den Ausdruck Störung nicht. Dieses Wort führt zu einem negativen Blick auf die Fähigkeiten unserer Klienten*innen und schmälert die Vielschichtigkeit dieser Menschen.
Autismus ist eine neural bedingte Wesensart, – keine Krankheit – welche nach aktuellem wissenschaftlichem Stand, von Geburt an und lebenslang vorhanden ist. Demnach lässt sich festhalten, dass sich die Gehirne von Nicht-Autisten, genannt Neurotypen, und von Menschen im Spektrum unterscheiden. Diese Unterschiede führen beispielsweise dazu, dass Menschen im Spektrum eine andere Wahrnehmungsverarbeitung aufweisen. Sie wenden andere Lern- und Denkstile an und nutzen für Neurotypen eine befremdliche Art der sozialen Kommunikation und Interaktion.
Menschen im Autismus-Spektrum sind sehr unterschiedlich in ihren Fähigkeiten, dennoch können in folgenden Bereichen Gemeinsamkeiten auftreten:
Dieser stammt von Lorna Wing, welche gemeinsam mit Kollegen*innen eine Übersicht erstellt hat, welche zusammenfassend den Autismus und seine Vielschichtigkeit als Ganzes kennzeichnet.
Die Triade (Dreizahl) der Beeinträchtigung
Beeinträchtigung bei
- Aufbau und Pflege von Freundschaften
- Zusammenarbeit in Gruppen
- Unstrukturierten Tagesabläufen
- Interpretation von Bedürfnissen anderer
Soziale Kommunikation
- Verarbeitung von Informationen auf verbaler und non-verbaler Ebene
- Verständnis von Witzen und Sarkasmus
- Sozialer Sprachgebrauch
- Literarische Interpretation
- Imaginationsspiel
- Flexibles Denken
- Empathie
- Generalisation
Ungenügende Kommunikationsfähigkeiten können sich in verzögertem Spracherwerb oder in Stummheit äußern. Ein anderes Phänomen kann darin bestehen, dass Menschen im Spektrum Probleme damit haben, Körpersprache von anderen zu interpretieren oder selbst als Kommunikationsmittel zu verwenden.
Wieder andere Menschen sprechen fließend auf einem sehr hohen literarischen Niveau, verstehen jedoch Gesprochenes wortwörtlich. Dieses wortwörtliche Sprachverständnis führt häufig zu Missverständnissen und damit zu sozialen Problemen.
Defizite der sozialen Interaktion können sich unter anderem darin äußern, dass sich Menschen im Spektrum in zwischenmenschlichen Beziehungen unangemessen Verhalten, ohne dass ihnen dieses bewusst ist.
Autismus, was nun?
Liegt ein Verdacht auf Autismus vor, sollte eine fachärztliche Diagnose von anerkannter Stelle eingeholt werden, um diese den Kostenträgern vorzulegen, welche den Anspruch auf Unterstützungsleistungen prüfen.
Diese können sein:
Gerne stehen wir Ihnen in dem Paragraphen-Dschungel mit Rat und Tat zur Seite!